Es war einmal…
»Alter, hängst du immer noch hier ab?« Die Stimme zerriss die Stille wie ein Blatt Papier und erhob sich über der Türglocke der Buchhandlung. Ich hob widerwillig den Kopf von dem Buch in meinem Schoß und sah zum Eingang. Ehe der Besucher zwischen den Regalen auftauchte, fuhr er fort: »Hier ist es staubiger als in der Unterhose meines Großvaters!«
Ich lachte und klappte das Buch zu, als sich ein blonder junger Mann vor mir aufbaute, der seine Haare mit einer übertriebenen Portion Gel am Kopf fest betoniert hatte. »George Hales!«, rief ich und begrüßte ihn mit einem Handschlag. »Was machst du hier?«
»Ich kontrolliere, ob du immer noch am Rockzipfel von Miss Pettyfer hängst.« Miss Pettyfer war die Lehrerin, die George und mich in der Primary School unterrichtet hatte. Ich gebe zu, dass ich mit meinen zarten sechs Jahren eine Schwärmerei für sie hegte, doch das war noch lange kein Grund, mich Jahre später noch damit zu necken. George grinste breit. Unwillkürlich fühlte ich mich an unsere gemeinsame Schulzeit zurückerinnert. Wenn George etwas angestellt hatte, hatte dieses Grinsen sein Gesicht gezeichnet.
»Das war in der ersten Klasse!«
»Und du bist immer noch hier.«
»Manche Dinge ändern sich eben nicht.«
»Offensichtlich.« George schüttelte den Kopf. »Wie hältst du es bloß in diesem Kaff aus? Du bist aus unserem Jahrgang der Einzige, der Three Mills nach dem Abschluss nicht fluchtartig verlassen hat.«
Ich zuckte die Achseln und machte eine unbestimmte Geste in Richtung der Regallandschaft, die den Verkaufsraum vom Boden bis zur Decke einnahm.
»Das ist kein Grund«, bemerkte George. »Bücher gibt es überall. An meiner Uni zum Beispiel haben wir eine Bibliothek, die zehnmal so groß ist wie Oak’s Library. Was ist aus deinem Plan geworden, zu studieren?« Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Verkaufstresen, während ich nach den richtigen Worten suchte.
»Das Studium läuft mir nicht weg«, sagte ich schließlich.
George schnaubte. »Wenn du in zehn Jahren anfängst, hast du graue Haare, bist so alt wie die jüngsten Dozenten und zehn Jahre älter als deine Kommilitonen.«
»In zehn Jahren habe ich noch keine grauen Haare!«
»Und was ist das überhaupt in deinem Gesicht?«
Ich fuhr mir über den Bart, den ich in den letzten Wochen mühsam gezüchtet hatte. »Was hast du gegen meinen Bart?«
»Vollbart ist in, wenn man Holzfäller ist oder Hipster. Du bist keins von beidem.« George machte eine Pause und musterte das abgetragene Hemd, das ich über einem Bandshirt trug. Unter seinem prüfenden Blick fühlte ich mich unwohl. »Oder habe ich etwas verpasst?« Er selbst wirkte in seinem Trenchcoat und den Lederschuhen ungewöhnlich schick. So kannte ich meinen ehemaligen Schulfreund nicht. Obwohl unser Schulabschluss erst drei Jahre zurücklag, schien vielmehr Zeit vergangen zu sein. Zeit, in der George sich vom rebellischen Teenager zu einem erwachsenen Mann entwickelt hatte. Wenn ich in den Spiegel schaute, sah ich dieselben grünen Augen und dieselbe herausgewachsene Frisur. Allerdings hatte ich mit achtzehn Jahren kaum Bartwuchs.
»Also«, sagte ich. »Du hast mir nicht auf meine Frage geantwortet. Was machst du hier? Es ist mitten im Semester. Ist etwas passiert? Haben sie dich etwa rausgeworfen?«
Der Schalk in Georges Augen verschwand. Er senkte kaum merklich den Blick. »Tante Beth ist gestorben. Dieses Wochenende findet ihre Beerdigung statt.«
»Oh«, würgte ich hervor und schluckte. Der Tod war etwas, mit dem ich nicht sonderlich gut umgehen konnte. Vor ein paar Wochen war ich Georges Tante Beth das letzte Mal begegnet. Sie hatte stark abgebaut und war mir mehr wie ein Geist als wie ein Mensch vorgekommen. »Na ja, mein Beileid.« Ich starrte zu Boden und glättete mit der Schuhspitze die Fransen des uralten Orientteppichs, der vor dem Kassentisch lag.
»Danke, Mann«, sagte George. »Es war schon seit geraumer Zeit abzusehen.«
»Wann ist die Beerdigung?«
»Am Samstag.«
»Ich komme vorbei, wenn ich nicht arbeite«, meinte ich. Meine eigenen Worte klangen hohl. Die Wahrheit war, dass ich mir lieber ohne Betäubung die Weisheitszähne entfernen lassen würde, als auf eine Beerdigung zu gehen. Auf Friedhöfen beschlich mich stets ein mulmiges Gefühl, als wäre mir der Tod auf den Fersen.
»Lass mal«, winkte George ab. »Ich weiß, wie gerne du auf Trauerfeiern unterwegs bist. Lass uns lieber abends ein Bier zusammen trinken. Irgendwo, weit weg von Gräbern und Särgen.«
»Abgemacht.« Ich war erleichtert. Ich war besser im Biertrinken, als betrübt neben Georges Verwandtschaft zu stehen und mir in die Wangen kneifen zu lassen, weil seine Großmütter sich darüber ausließen, wie groß ich geworden war.
»Super«, sagte George und klopfte mir auf die Schulter. »Ich hole dich um acht Uhr ab. Und wehe, du rasierst dich nicht bis dahin!«
»Was hast du gegen meinen Bart?«, wiederholte ich, aber George schlängelte sich bereits durch die Regale auf die Tür zu. Und anstatt einer Antwort ertönte die Türglocke als Zeichen, dass er das Oak’s verlassen hatte. Ich atmete durch zusammengebissene Zähne aus und sank auf den Hocker hinter der Kasse. Die Seite des Buches, in das ich kurz zuvor noch vertieft war, hatte ich verschlagen. Gedankenverloren blätterte ich darin herum, ohne zu wissen, wo ich stehengeblieben war. Die Begegnung mit George ging mir nicht aus dem Kopf und seine Worte hafteten an mir wie ein lästiger Klebestreifen.
Später stand ich in dem winzigen Badezimmer der Wohnung, die ich mir mit meinem Vater teilte und die über Oak’s Library lag. Ich stützte mich auf das angelaufene Waschbecken, das eines Frühjahrsputzes dringend bedurft hätte, und starrte mein Spiegelbild an. Kurz zuckten meine Finger zu dem Rasierapparat, der auf einem Regal lag. Doch ich verwarf den Gedanken wieder. Ich war Adam Oak, zweiundzwanzig Jahre, wohnhaft in Three Mills und Angestellter in der Buchhandlung meines Vaters. Es gab aufregendere Leben, aber meines passte mir so gut wie meine Lieblingsjeans. Es war bequem. Und von meinem Bart würde ich mich nicht trennen, nur weil George mich für einen Holzfäller hielt.
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